Im November 2024 hat der Bundesgerichtshof erstmals eine Entscheidung im neuen Leitentscheidungsverfahren getroffen, welches Massenverfahren vereinfachen soll. Ein weiteres neues prozessuales Mittel stellt die Abhilfeklage dar. Für Unternehmen besteht daher zukünftig das Risiko, dass eine Mehrzahl gleichgelagerter Ansprüche deutlich schneller und kosteneffektiver durchgesetzt werden kann.
Massenverfahren mit Tausenden von Klägerinnen und Klägern sind eine Herausforderung für die Justiz. Wenn etwa unzulässige Klauseln in Verträgen von Internetanbietern, Fitnessstudios oder Versicherern verwendet werden, sind oft zahlreiche Kunden von den gleichen Rechtsfragen betroffen, sodass juristische Masseverfahren im Markt exponentiell zugenommen haben. Ein prominentes Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist die Abgasthematik bei Dieselmotoren und die damit verbundene Klagewelle gegen Automobilhersteller. In diesem Zusammenhang waren im Dezember 2023 über 5.000 Verfahren beim Bundesgerichtshof (BGH) anhängig[1]. Ein anderes, aktuelleres Beispiel ist ein Vorfall, in dem es in den Jahren 2018 und 2019 durch sog. Scraping möglich war, personenbezogene Daten von 533 Millionen Facebook-Nutzern weltweit abzugreifen. Anschließend wurden diese Daten im April 2021 im sog. Darknet öffentlich gemacht. Beim erkennenden Senat des BGH sind derzeit 25 weitere Revisionsverfahren zu dem Scraping-Vorfall anhängig. In den Tatsacheninstanzen sind bei unterschiedlichen Gerichten noch mehr als 6.000 Parallelverfahren anhängig (BGH NJW 2024, 3595).
Ohne höchstrichterliche Klärung müssen sich die unteren Instanzen immer wieder mit neuen Verfahren zu gleichgelagerten Sachverhalten beschäftigen. Bislang kam der BGH im Falle von Vergleichen oder Klagerücknahmen gar nicht zum Einsatz. Das wurde teilweise auch als prozesstaktisches Mittel durch die Parteien eingesetzt. Deshalb erhält der BGH mit dem neuen sog. Leitentscheidungsverfahren nun die Möglichkeit, grundsätzliche Rechtsfragen auch aus eigenem Antrieb heraus – ohne Rücksicht auf eine etwaige anderweitige Erledigung des in Bezug genommenen Verfahrens – zu entscheiden. Damit stellt das neue Leitentscheidungsverfahren ein wichtiges Element dar, um solche Verfahren in Zukunft noch effizienter erledigen zu können. Davon profitieren in erster Linie Verbraucherinnen und Verbraucher – aber auch die Justiz, da die Instanzgerichte dadurch schneller und einheitlicher entscheiden können.
Das Revisionsgericht kann nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung das Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen. Das Leitentscheidungsverfahren kann auch ohne Beteiligung der Parteien des zugrundeliegenden Rechtsstreits durchgeführt werden. Wie bereits erwähnt, wird hierdurch sichergestellt, dass die Parteien die Befassung des BGH mit einzelnen für Massenverfahren bedeutsamen Rechtsfragen nicht durch prozesstaktisches Vorgehen verhindern oder verzögern können. Der Beschluss des BGH hat dabei keine eigene prozessuale Bedeutung. An sich handelt es sich um ein gesetzlich vorgesehenes "obiter dictum", d.h. eine Rechtsansicht, die keine konkrete Entscheidung im Einzelfall trägt, sondern nur bei Gelegenheit geäußert wurde. Es geht also um die Klärung bestimmter Rechtsfragen als Orientierung für die urteilenden Instanzgerichte in den anhängigen oder zukünftigen Parallelverfahren. Daneben hat dies zur Konsequenz, dass den zugrundeliegenden Rechtsfragen die grundsätzliche Bedeutung entzogen wird. Damit ist ohne erneut entstandenes Klärungsbedürfnis eine Revision in Folgeverfahren regelmäßig ausgeschlossen.
Bisher konnte ein Verfahren auf den unteren Instanzen nicht aufgrund einer Vorgreiflichkeit ausgesetzt werden, da ein paralleles Revisionsverfahren keine solche Vorgreiflichkeit begründet. Im Hinblick auf das Leitentscheidungsverfahren besteht nun jedoch die Möglichkeit, einer solchen Vorgreiflichkeit und damit Aussetzung, was die Bedeutung der Leitentscheidung für noch in den Instanzen anhängige Verfahren flankiert. Dies kann im Ergebnis auch verhindern, dass große Mengen gleichförmiger und im Ergebnis gleich zu entscheidender Verfahren beim BGH auflaufen und dort die Abarbeitung erheblich erschweren.
Ein weiteres prozessuales Instrument zur Bewältigung von Massenverfahren führte das bereits am 13. Oktober 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie ein. Dessen zentraler Bestandteil ist die Einführung einer neuen auf Leistung gerichteten Kollektivklage (sog. Abhilfeklage), die gemeinsam mit der bereits zuvor existierenden Musterfeststellungsklage im neu geschaffenen Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG) geregelt ist.
Verbandsklagen im Sinne des VDuG können in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten erhoben werden, die Ansprüche und Rechtsverhältnisse einer Vielzahl von Verbraucherinnen und Verbrauchern gegen einen Unternehmer betreffen, wobei kleine Unternehmen ebenfalls klagebefugt sind. Erfasst werden damit zum Beispiel die Bereiche Datenschutz, ESG, Kartellschadensersatz, Produkthaftung sowie das Deliktsrecht im Allgemeinen. Zuständig ist das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk sich der allgemeine Gerichtsstand des verklagten Unternehmens befindet. Mit der neuen Abhilfeklage können diese Verfahren in Zukunft noch effizienter von den Gerichten erledigt werden. Entsprechend kommen Verbraucherinnen und Verbraucher schneller zu ihrem Recht.
Zuvor mussten Anspruchsteller mit gleichgelagerten Fällen entweder selbst klagen oder sie konnten sich zu einer Musterfeststellungsklage anmelden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass ein Verbraucherverband eine solche Klage tatsächlich erhebt. Hat der klagende Verband damit Erfolg, sind wesentliche Voraussetzungen des Anspruchs verbindlich festgestellt. Da es sich jedoch lediglich um eine Feststellungsklage handelte und gerade keine Leistung zugesprochen wurde, war eine Durchsetzung des Anspruchs im Falle einer Erfüllungsverweigerung des verklagten Unternehmens nicht möglich. Erforderlich wurde daher eine weitere Klage, etwa auf Schadensersatz. Dies stellte nicht nur eine Belastung für den Einzelnen, sondern auch für die Justiz dar. Denn derselbe Konflikt musste mehrfach vor Gericht ausgetragen werden.
Mit Hilfe der Abhilfeklage können Verbraucherverbände nun direkt auf Erfüllung der Ansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern klagen. Das Gericht stellt in der Folge eine Gesamtsumme für alle geltend gemachten Ansprüche fest. Die Verteilung erfolgt dann durch einen gerichtlich bestellten Sachwalter. Verbraucherinnen und Verbraucher müssen bei Erfolg also nicht noch einmal selbst klagen, sondern erhalten das ihnen zustehende Geld bereits im Rahmen der Abhilfeklage.
Rechtsverstöße in der heutigen Welt, insbesondere im Internet, wirken sich nicht auf den Rechtskreis des Einzelnen, sondern auf eine Vielzahl von Individuen aus. Der Rechtsstaat muss Mittel und Wege finden, dem Einzelnen bei massenhaft auftretenden Rechtsverletzungen beschleunigt zum Recht zu verhelfen. Gleichzeitig muss den Kapazitäten der Justiz Rechnung getragen werden. Dieser Realität versuchen das Leitentscheidungsverfahren und die Abhilfeklage als neue prozessuale Mittel gerecht zu werden. Es bleibt abzuwarten, wie häufig diese Verfahren in der Praxis durch Verbände und Justiz zukünftig aufgenommen werden. Unabhängig davon ist Unternehmen anzuraten, sich mit den neuen Verfahren vertraut zu machen, um etwaige prozessuale Risiken in der eigenen Geschäftsstruktur frühzeitig erkennen und sich vorbereiten zu können.
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