In seinen Urteilen vom 23. Mai 2023 (II ZR 219/21 und II ZR 220/21) sprach der Bundesgerichtshof (BGH) ehemaligen Aktionären einer Zielgesellschaft, die ein Übernahmeangebot angenommen hatten, Zahlungsansprüche auf den Unterschied zwischen dem Betrag der Gegenleistung des Übernahmeangebots und dem Mindestbetrag der Abfindung für Aktionäre zu, die der Bieter im Rahmen einer separaten Vereinbarung in Bezug auf den Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags (BGAV) mit der Zielgesellschaft vereinbarte.
Die Urteile folgen der Linie mehrerer Leitentscheidungen des BGH, bei denen der Senat, bezogen auf Transaktionen im Vorfeld von Übernahmeangeboten, im Sinne der Gleichbehandlung der Aktionäre eine wirtschaftliche Betrachtung vornahm. Mit den aktuellen Entscheidungen erklärt der BGH nunmehr, bezogen auf den relevanten Zeitraum für Nacherwerbe nach einem Übernahmeangebot, Einzelvereinbarungen für mindestpreisrelevant, in denen sich ein Paketaktionär verpflichtet, den Abschluss eines BGAV zu unterstützen, wenn der Bieter einen Mindestbetrag für die Rahmen des BGAV zu zahlende Abfindung verspricht.
Nach dem Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz (WpÜG) muss der Bieter eines Übernahme- oder Pflichtangebots den Aktionären eine angemessene Gegenleistung anbieten. Zur Sicherung dieses Rechts der Aktionäre enthält das WpÜG Mindestpreisregelungen, die auf dem Grundprinzip der Gleichbehandlung von Aktionären beruhen.
Der Bieter ist nach dem WpÜG gegenüber den Aktionären, die das Angebot angenommen haben, zur Zahlung einer Geldleistung in Höhe des Unterschiedsbetrags verpflichtet, wenn er innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung des Angebotsergebnisses (zum Ablauf der Annahmefrist) außerhalb der Börse Aktien der Zielgesellschaft erwirbt und hierfür wertmäßig eine höhere als die im Angebot genannte Gegenleistung gewährt oder vereinbart. Nach dem WpÜG sind Vereinbarungen, auf Grund derer die „Übereignung von Aktien verlangt“ werden kann, einem mindestpreisrelevanten Erwerb gleichgestellt (§ 31 Abs. 6 S. 1 WpÜG).
In den beiden nunmehr vom BGH entschiedenen Fällen hielten die Klägerinnen jeweils Aktien einer deutschen Aktiengesellschaft, die 2017 zur Zielgesellschaft von zwei freiwilligen öffentlichen Übernahmeangeboten nach dem WpÜG wurde. Die Beklagte in beiden Fällen ist die Rechtsnachfolgerin der damaligen Bieterin und Alleingesellschafterin der aktuellen Hauptaktionärin der Zielgesellschaft.
Im April 2017 veröffentlichte die damalige Bieterin ein öffentliches Übernahmeangebot an die Aktionäre der Zielgesellschaft, welches jedoch nicht durchgeführt wurde, weil die Mindestannahmeschwelle nicht erreicht wurde. Im Juli 2017 veröffentlichte die Zielgesellschaft eine Mitteilung, nach welcher der Investor E. sowie von ihm kontrollierte Fondsgesellschaften (gemeinsam: E.) insgesamt 8,69 % des Grundkapitals der Zielgesellschaft hielten.
Am 19. Juli 2017 veröffentlichte die damalige Bieterin ein zweites öffentliches Übernahmeangebot zu einem Preis von 66,25 € je Aktie, mit einer Mindestannahmeschwelle von 63 % und einer Annahmefrist bis zum Ablauf des 16. August 2017. Am 18. August 2017 gab sie bekannt, dass die Mindestannahmeschwelle erreicht worden sei und sich eine weitere Annahmefrist bis zum Ablauf des 1. September 2017 ergebe. Die Klägerinnen nahmen jeweils das Übernahmeangebot an.
Nachdem die Zielgesellschaft am 24. August 2017 mitgeteilt hatte, dass die damalige Bieterin an sie herangetreten sei, um sie über ihre Absicht zu informieren, einen BGAV abzuschließen, schlossen die damalige Bieterin und E., die zu diesem Zeitpunkt 13,26 % der Aktien der Zielgesellschaft hielt, am 30. August 2017 einen als „Irrevocable Commitment“ bezeichneten Vertrag in englischer Sprache (Irrevocable Commitment). Darin verpflichtete sich E., in der Hauptversammlung der Zielgesellschaft einem BGAV unter anderem dann zuzustimmen, wenn die darin festgelegte Abfindung für außenstehende Aktionäre mindestens 74,40 € je Aktie beträgt. Die damalige Bieterin wollte sich mit dieser Vereinbarung die Zustimmung von E. zum BGAV sichern, weil sie mit ihren Stimmrechten eine Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Kapitals nicht erreichen konnte.
Danach brachte die damalige Bieterin die von ihr gehaltenen Aktien (65,82 % des Grundkapitals) der Zielgesellschaft in ihre hundertprozentige Tochtergesellschaft, die N. GmbH (N. GmbH), ein. Diese schloss Ende Dezember 2017 einen BGAV mit der Zielgesellschaft, in dem sich die N. GmbH verpflichtete, die Aktien der außenstehenden Aktionäre der Zielgesellschaft gegen eine Barabfindung von 74,40 € je Aktie zu erwerben. Die Hauptversammlung der Zielgesellschaft stimmte dem BGAV Anfang Februar 2018 zu. Der BGAV wurde am 20. März 2018 in das Handelsregister eingetragen. Im Oktober 2018 veröffentlichte die N. GmbH ein Übernahmeangebot zur Durchführung eines Delisting zu einem Preis von 81,73 € je Aktie, welches E. auf Grund einer zuvor abgeschlossenen Andienungsvereinbarung annahm.
Die Klägerinnen verlangten von der Beklagten für die jeweils von ihnen zur Annahme des Übernahmeangebots eingereichten Aktien den Unterschiedsbetrag zwischen dem im Übernahmeangebot genannten Preis von 66,25 € je Aktie und der E. im Irrevocable Commitment zugesagten Mindestabfindung von 74,40 € je Aktie. Während das Landgericht jeweils die Klage abgewiesen und das Berufungsgericht die dagegen gerichtete Berufung der jeweiligen Klägerin zurückgewiesen hatte, ließ der BGH in beiden Verfahren die Revision zu, soweit ein Anspruch der jeweiligen Klägerin auf den Unterschiedsbetrag verneint worden war.
Der BGH hob die angefochtenen Entscheidungen des Berufungsgerichts auf und verurteilte die Beklagte zur Zahlung des Unterschiedsbetrags, weil er befand, dass die Argumente, auf deren Grundlage die Ansprüche der Klägerinnen zurückgewiesen worden waren, einer rechtlichen Prüfung in zwei entscheidenden Punkten nicht standhalten, nämlich einerseits die Ansicht, dass das Irrevocable Commitment keine einem mindestpreisrelevanten Erwerb gleichgestellte Vereinbarung sei, sowie andererseits die Ansicht, dass der Anspruch auf den Unterschiedsbetrag ausgeschlossen sei, weil das Irrevocable Commitment eine Vereinbarung sei, die den Erwerb von Aktien im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Abfindung an Aktionäre betreffe.
Im Zentrum der Entscheidung des BGH steht die Frage, ob das Irrevocable Commitment eine mindestpreisrelevante Vereinbarung im Sinne des § 31 Abs. 6 S. 1 WpÜG ist. Immerhin sah das Irrevocable Commitment weder einen unmittelbaren Erwerb von Aktien noch einen Anspruch der damaligen Bieterin auf Lieferung von Aktien vor und die damalige Bieterin erhielt im Rahmen der Vereinbarung im Gegenzug zur Festlegung der Mindestabfindung nur die Zusage zur Zustimmung zum Abschluss des BGAV.
Der BGH hält fest, dass zwar nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum eine Vereinbarung, mit der der Bieter einem Aktionär der Zielgesellschaft ein Recht auf Andienung von Aktien der Zielgesellschaft einräumt oder eine auf die Abnahme der Aktien gerichtete Verpflichtung eingeht, nicht als eine einem Erwerb gleichgestellte Vereinbarung angesehen werde. Nach Ansicht des BGH ist dieser Auffassung allerdings nicht zu folgen.
Nach dem BGH ergibt sich nicht aus dem Gesetzeswortlaut, dass der Bieter die Übereignung von Aktien verlangen können muss. Als mindestpreisrelevant erfasst werden nach § 31 Absatz 6 Satz 1 WpÜG vielmehr allgemein Vereinbarungen, auf Grund derer die Übereignung von Aktien verlangt werden kann, ohne dass näher bestimmt wird, wer aus der Vereinbarung berechtigt und wer verpflichtet ist.
Der BGH führt aus, dass die Regelung im WpÜG einer Umgehung von auf den dinglichen Erwerb bezogenen Regeln durch schuldrechtliche Vereinbarungen vorbeugen soll. Wenn statt eines Erwerbs eine schuldrechtliche Vereinbarung geschlossen wird, die den dinglichen Erwerb ermöglicht, soll (etwa bei der Bestimmung des relevanten Mindestpreises von Vorerwerben für die Angebotsgegenleistung) auf diese Vereinbarung abzustellen sein. Damit soll sichergestellt werden, dass der Bieter an dem Preis festgehalten wird, den er im zeitlichen Zusammenhang mit dem Übernahmeangebot selbst als angemessen angesehen hat. Für den BGH lassen sich diese Erwägungen auch auf Vereinbarungen, die einem Erwerb während der Annahmefrist oder nach deren Ablauf gleichgestellt werden, übertragen.
Der BGH hält fest, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung unabhängig davon betroffen ist, ob der Bieter sich den Erwerb von Aktien zu einem höheren als den im Angebot genannten Preis sichert oder ob er die Veräußerung zu einem solchen Preis ermöglicht. Der Bieter kann auch durch die Einräumung eines Andienungsrechts zu erkennen geben, zu welchem Preis er bereit ist, die Aktien zu erwerben, und auf diese Weise einzelne Aktionäre bevorzugt behandeln.
Nach Auffassung des BGH ist es nicht von Bedeutung, ob der Bieter den Erwerb durchsetzen kann, weil der Umgehungsschutz nicht daran anknüpft, dass sich der Bieter Aktien der Zielgesellschaft außerhalb des öffentlichen Angebots sichert, sondern dass die in der Vereinbarung zum Ausdruck kommende rechtsgeschäftliche Disposition des Bieters derjenigen eines unmittelbaren Erwerbsgeschäfts entspricht. Laut dem BGH kann der Bieter, gerade wenn er die Entscheidung darüber, ob es zu einem Erwerb kommt, in die Hände eines potentiellen Veräußerers legt, damit zum Ausdruck bringen, welchen Preis er bereit ist, für den Erwerb der Aktien zu zahlen. Liegt dieser Preis über dem Angebotspreis, ist mit einer solchen Disposition eine Ungleichbehandlung gegenüber den das Angebot annehmenden Aktionären verbunden, die innerhalb der im WpÜG bestimmten Zeiträume vermieden werden soll.
Der BGH stellt fest, dass die Vereinbarung, mit der sich die damalige Bieterin die Zustimmung eines Paketaktionärs zum BGAV gesichert hat, eine auf den Erwerb von Aktien gerichtete rechtsgeschäftliche Disposition der damaligen Bieterin enthält. Das Irrevocable Commitment sah eine Mindestabfindung der außenstehenden Aktionäre für den Fall des Abschlusses des BGAV vor und die Vereinbarung diente dazu, sich die für den BGAV erforderliche Mehrheit zu sichern.
Für den BGH steht der Anwendung der Regelung im WpÜG nicht entgegen, dass dieser Aktienerwerb erst nach Wirksamwerden des BGAV mit Eintragung im Handelsregister und nach Ausübung des Wahlrechts der Aktionäre zur Lieferung der Aktien gegen Erhalt der Abfindung erfolgen kann. Da das WpÜG schon die Vereinbarung einem mindestpreisrelevanten Erwerb gleichstellt, kann nach Auffassung des BGH der Vorschrift keine Einschränkung im Hinblick darauf, wann dieses Andienungsrecht ausgeübt werden kann, entnommen werden. Vielmehr besteht dafür im Hinblick auf den beabsichtigten Umgehungsschutz auch kein Grund, wenn der Bieter mit dem Abschluss der Vereinbarung zeigt, welchen Preis er bereit ist, für den Erwerb der Aktien zu zahlen. Der BGH hebt hervor, dass der Gesetzgeber des WpÜG auch Vereinbarungen mit herausgeschobenem Erfüllungszeitraum vor Augen hatte, weshalb der Anspruch auf eine Übereignung aus der Vereinbarung nicht fällig sein muss und auch bedingte oder befristete Vereinbarungen von der Vorschrift erfasst werden.
Nach Auffassung des BGH steht einer Berücksichtigung der in der Vereinbarung abgestimmten Mindestabfindung als preisrelevant im Sinne des WpÜG auch nicht entgegen, dass sie sich auf die Höhe der im beabsichtigten BGAV festzulegenden Abfindung bezieht. Der BGH stellt fest, dass es nach dem Zweck der Regelung zum Umgehungsschutz im WpÜG unerheblich ist, auf welche Grundlagen der Bieter seine Bewertung der Aktien stützt. Maßgebend ist, ob die für den Erwerb gewährte oder vereinbarte Gegenleistung höher ist als die im Angebot genannte.
Nach dem WpÜG besteht bei relevanten Nacherwerben der Anspruch auf den Unterschiedsbetrag zwischen der Angebotsgegenleistung und der für den Nacherwerb gewährten oder vereinbarten Gegenleistung nicht bei einem Erwerb von Aktien im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Abfindung an Aktionäre der Zielgesellschaft und für den Erwerb des Vermögens oder von Teilen des Vermögens der Zielgesellschaft durch Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung (§ 31 Abs. 5 S. 2 WpÜG).
Im Rahmen der Prüfung der Reichweite dieses in der Literatur umstrittenen Ausschlusses[1] kommt der BGH zu dem Schluss, dass eine Vereinbarung, mit der sich ein Paketaktionär (im Voraus) verpflichtet, mit seinen Stimmrechten die Zustimmung der Hauptversammlung zum Abschluss eines BGAV zu unterstützen, wenn den außenstehenden Aktionären eine dem Betrag nach bestimmte Mindestabfindung angeboten wird, nicht „im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Abfindung an Aktionäre der Zielgesellschaft“ im Sinne des § 31 Abs. 5 S. 2 WpÜG steht.
Nach Auffassung des BGH legt der Charakter der Vorschrift als Ausnahmeregelung ein enges Verständnis vom Begriff des erforderlichen Zusammenhangs nahe, damit die dem Anspruch auf den Unterschiedsbetrag zu Grunde liegende Zielsetzung, die Gleichbehandlung der Aktionäre auch hinsichtlich der innerhalb eines Jahres nach der Veröffentlichung des Angebotsergebnisses zum Ablauf der Annahmefrist vereinbarten Preise zu gewährleisten, nicht ausgehöhlt wird.
Auch der unmittelbare Anwendungsbereich der an einen Aktienerwerb anknüpfenden Ausschlussregelung spricht für enges Verständnis. Der Rechtsgrund für die Entstehung eines gesetzlichen Abfindungsanspruchs wird entweder bereits vor dem Aktienerwerb des Bieters gelegt, wie im vorliegenden Fall durch den Abschluss des BGAV, in dem sich das herrschende Unternehmen verpflichtet, auf Verlangen eines außenstehenden Aktionärs der beherrschten Gesellschaft dessen Aktien gegen Zahlung der angemessenen Abfindung zu erwerben oder, wie beispielsweise im Fall der Eingliederung, mit dem Erwerb der Aktien durch den Bieter.
Dieser direkten Verknüpfung mit einem gesetzlichen Abfindungsanspruch entspricht ein enges Verständnis vom Begriff des Zusammenhangs auch für Vereinbarungen, die nach dem WpÜG einem mindestpreisrelevanten Erwerb lediglich gleichgestellt werden. Würden demgegenüber auf einen gesetzlichen Abfindungsanspruch bezogene Vereinbarungen bereits im Vorfeld einer gesetzlichen Abfindungspflicht ermöglicht, bedeutete dies eine erhebliche Ausweitung für den Anwendungsbereich der Ausnahmeregelung.
Nach Ansicht des BGH würde eine Öffnung der Ausnahmebestimmung für Abfindungszusagen an einzelne Paketaktionäre in Bezug auf spätere Strukturmaßnahmen es Bietern ermöglichen, Sondervorteile zu versprechen, um ihr Übernahmeziel zu erreichen. Dies ist vom Zweck der Ausnahmebestimmung nicht mehr gedeckt.
Diese Entscheidungen werden große Auswirkungen auf die übernahmerechtliche Praxis haben. Bieter, die einen BGAV für die Integration einer Zielgesellschaft in den eigenen Konzern oder zum Zugriff auf die Liquidität der Zielgesellschaft anstreben, müssen Vereinbarungen im Vorfeld des Abschlusses des BGAV, die nur mittelbar einen Aktienerwerb ermöglichen und kein eigenes Erwerbsrecht des Bieters vorsehen, auf die Mindestpreisrelevanz nach dem WpÜG genauestens prüfen.
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[1] Nach einer Auffassung soll ein Nachbesserungsanspruch nach dem WpÜG auch dann ausgeschlossen sein, wenn der Bieter mit einem Aktionär eine den Angebotspreis übersteigende Abfindung vorzeitig aushandelt, während eine andere Auffassung die Ausschlussregelung auf solche Vereinbarungen als nicht anwendbar ansieht.